Nov. 20
23

Der Sektor Pilastro bietet mit den schönsten Fels der gesamten Krettenburg. Er reicht von „Black Power“ bis „Bergzeit Daheim“. Nils klettert die gleichnamige Route „Pilastro“ (7c); Foto: Jo Stark
Die „frische“ Jahreszeit ist angebrochen. Die Hallen sind wegen der Pandemie aktuell wieder geschlossen, so steht zwangsläufig „Fels“ auf der Agenda kletternder Menschen. Die herbstlichen Farben, der weite Blick und die Stille der Natur sind um diese Jahreszeit besonders eindrucksvoll. Auch wenn es bisweilen recht zapfig ist, so gilt gerade im Spätherbst das Motto: Carpe Diem (Lat.: Nutze den Tag), denn gerade jetzt besteht die beste Gelegenheit, sich bei Sonnenschein an Microgriffchen hochzuzerren (Erklärung für „Uneingeweihte“: je wärmer – sprich: sonniger – desto rutschiger die Griffe, das gilt natürlich besonders bei kleinen Griffen).

Blick von der oberen Firstalm hinüber zum Jägerkamp; Foto: Steffi Schabert
Vor zwei Wochen hatte mir meine jüngste Tochter ihr Projekt an der Krettenburg übergegeben. Die Krettenburg im nahen Spitzingseegebiet hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer, hervorragender Routen in fast allen Schwierigkeitsgraden dazugewonnen. Bereits während des ersten Lockdown in 2020 hatte ich eine Neutour an der Krettenburg (Pilastro/7c) erschlossen. das Projekt meiner Tochter befindet sich nur 50 m rechts neben der Pilastro und versprach ähnlich schwer zu werden. Auf einen harter Einstiegsboulder an scharfen Leistchen folgt ein schräger Riss einer bereits existierenden Route (Quo Vadis/7a), der zu einem sehr guten Schüttelpunkt führt (die Quo Vadis zweigt hier rechts ab). Vom Schüttelpunkt geht es über eine abdrängende Stelle an scharfen Microleistchen (Crux) straight up und mittels eines kleinen Dyno an einen fetten Henkel. Die plattigen Restmeter klettern sich leicht und sind identisch mit der Quo Vadis.

Spätherbst an der Krettenburg; Foto: Steffi Schabert
Bereits vor drei Wochen startete ich einige vergebliche Versuche in dem Projekt. Selbst nach Sonnenuntergang war die Wand noch zu warm um die kleinen, bissigen Leistchen zu halten. Gestern versuchte ich es erneut. Obwohl bereits eine geschlossene Schneeschicht am Wandfuss lag, war es in der Sonne immer noch recht warm. Während ich die Schüsselstelle erneut ausboulderte, wollte mir das Halten der Griffchen immer noch nicht gelingen, auch beim Start aus dem Hängen hatte ich keine Chance, zu schmierig. Mehrmals rutschte ich ab, bei mir kam Frust auf. Als jedoch am Nachmittag die Sonne hinter dem nahen Bergrücken verschwunden war, traf überraschend Kairos, der Gott der guten Gelegenheit, an der auf 1500 m üNN gelegenen Krettenburg ein. Er brachte klamme Kälte mit sich, die die Temperaturen fast schlagartig Richtung Null Grad fallen ließ.

Am Einstieg der Carpe Diem (7b+); Foto: Steffi Schabert
Ich beschloss diese Gelegenheit des Kairos am Schopf zu packen, besser ausgedrückt: ich packte die Einstieggriffe und startete los. Im Einstiegsboulder riss es mir die rechte Hand aus einem Leistchen und ich stürzte – aua, das kostete Haut. Ob ich die Route heute noch klettern kann? Zweifelhaft, aber wenn dann sollte ich es jetzt noch einmal versuchen, denn in 10 Minuten wird es sicherlich so kalt geworden sein, dass mir die Finger hoffnungslos einfrieren werden! Ich startete ein zweites Mal, jetzt mit einer Einstellung von „Alles oder Nichts“. Der Einstiegsboulder gelang und ich fand mich schweratmend an der Schüttelstelle ein. Während ich versuchte etwas zu entspannen und die Finger wieder aufzuwärmen, ging ich im Kopf noch einmal jedes Bewegungsdetail der nächsten 4 m durch. Dann griff ich mit vollem Elan an und boulderte in die Crux hinein.

Die Krettenburg liegt direkt über den Wiesen der Firstalm; Foto: Markus Stadler
Zu meiner Überraschung konnte ich die fiesen Beisser besser fixieren als jemals zuvor und mit einem Schrei der eine Mischung aus Entschlossenheit und Überraschung wiederspiegelte, schnappte ich in den rettenden Henkel. Die letzten 8 Meter hinaufgetänzelt und das Projekt war kein Projekt mehr. Es war geschafft, ich hatte den Tag genutzt! Mit einem Gefühl großer Zufriedenheit, verließ ich die Krettenburg und ihre herrliche, spätherbstliche Gebirgsumgebung. In Anlehnung an die besondere Atmosphäre, die ich genießen durfte und die aussergewöhnlich passenden Bedingungen, die meinen Erfolg möglich machten, taufte ich das Kind auf den Namen „Carpe Diem“ (Nutze den Tag/7b+).
Anmerkung:„Markus Stadler ist fleissig dabei den Führer „Bayer. Alpen 3 – von Bayerischzell bis Benediktbeuren“, in dem auch die Krettenburg enthalten ist, zu aktualisieren – soll 2021 erscheinen.“