Nov. 10
7
Herbstferien! Die wollten wir (Steffi, Silja und ich) nicht ungenutzt verstreichen lassen. Was lag näher, als ins sonnige Tessin zu fahren? „Sintflutartige Regenfälle im Tessin“, das waren die letzten Meldungen, die wir hörten, als wir aufbrachen. Empfangen wurden wir von einer herbstlichen Märchenlandschaft: Die Berghänge in den milden Farben der späten Jahreszeit, der Talgrund noch grün, die Felsregionen hoch über uns bereits tief verschneit. Stahlblauer Himmel versprach beste Bedingungen. Weit gefehlt: seifige Griffe, dazu einfach etwas zu warm, kein Grip. Sitzstarts, die mich festnagelten, Schleimgriffe, die mich ausspuckten. Der erste Tag war frustig. Am zweiten Tag überkam mich ansatzweise Verzweiflung, es wurde nicht besser. Lediglich eine 6c+ („Scia Sota“) fand sich für einen Lulatsch wie mich.
Cresciano nicht mein Gebiet?
Silja und Steffi hatten ihren Spaß und boulderten nach Lust und Laune, während ich mit jeder Stunde griesgrämiger wurde. Das Wetter war super, also musste „doch was hergehn“ – aber es ging nix her! Alle Erfahrung hatte ich über Bord geworfen: Die Gewöhnung an den Felstyp, die Anpassung der Unterhautfettschichten, den Spannungsaufbau, die Koordination der Muskelketten.
Steffi versuchte mich aufzumuntern: „Vielleicht geht’s besser, wenn es kälter wird?“ Ich winkte ab: „Nein, ich bin einfach nicht in Form“. Am nächsten Morgen war es ziemlich kalt, der Atem stand in der Luft, wieder stahlblauer Himmel. Vielleicht ist jetzt der Grip besser? Ich schöpfte Hoffnung. „Pixel“ eine nette 7a am Gebietseingang forderte mich auf. Alles ging auf Anhieb, nur so ein besch… Zug in der Mitte ging gar nicht.
La Grotte des soupirs
Endlich die Erleuchtung: meine Hookschwäche machte mir mal wieder einen Strich durch die Rechnung. Ich musste einfach nur kompromissloser hooken und schon gings, wie von selbst. Ein Schrei im Ausstiegsmantel erlöste mich aus der Dreitagestarre. Ich war doch noch nicht zum Wanderer mutiert. Ein einsamer (junger) Schwede kommt heraufgestapft, breitet seine 3 Crashpads unter „La Grotte des soupirs“ (7c+) aus, er bouldert professionell in der „Grotte“. Scheint ein umfangreicheres Projekt von ihm zu sein, er hat fast genau meine Größe, die „Grotte“ fordert Längenzüge und Spanner an großen Griffen. Ich bin angefixt, frag ihn, ob ich auch mal darf: „Yes, take your shoes.“ Ich komme im zweiten Versuch bis wenige Zentimeter an den Cruxgriff. Vom Cruxgriff weg bis zum Schlussgriff ziehe ich sofort im Anschluß im ersten Versuch. Der Schwede ist tief beeindruckt, er hatte mich mit Frau und Kind eher in die Klasse Familienboulderer einsortiert. Noch beeindruckter bin ich selber. Mit einem Dutzend bemitleidenswerten Versuchen am Startgriff hatte ich gerechnet.
Die Klasse der Familienboulderer
Von tiefer Zufriedenheit ergriffen, erkläre ich dem Schweden, daß ich jetzt wieder mit meiner Familie weiterbouldern will. Er schaut mich fassungslos an und meint: „You need only 5 Minutes for „La Grotte“, try it!“. Ich lächle in mich hinein und lasse den sympathischen Kerl an der „Grotte“ zurück. Eine altbekannte Energie durchströmt mich, ich hatte mich mit Eigendruck selbst blockiert. Ab jetzt wollte ich locker bleiben. Ich betreue Silja und Steffi beim Bouldern. Dann noch eine 6c+ trav. im 1. Versuch, die mich aber völlig plättet. Am Abend feiere ich meine Wiedergeburt. Am Tag 4 schlafe ich zum ersten Mal seit langem wieder aus, es ist noch kälter, die weißen Berge über uns heben sich ganz klar vom blauen Himmel ab. Wir sind später an den Blöcken als sonst und haben uns die mittleren Sektoren vorgenommen. Mit herrlichen Genußbouldern wärmen wir uns im Sektor Cubo auf. Ich fühle mich stark wie ehedem. Eine unangenehme Ein-Zug-Sitzstart-7a ergibt sich sofort. Im Anschlusssektor lacht mich eine athletische 7b+ an. Ein paar Versuche später und nach dem kurzzeitigen Hängen an zwei Fingerspitzen stehe ich auf dem Block und schreie meine Freude hinaus.
Dai zeigt wie‘ s geht
Immer wieder coache ich Steffi und Silja, was mir ebenso Spaß macht, wie wenn ich selbst den Fels angreife. Noch schnell in Naso di Zmut, einem wunderschöner Sektor vorbeigeschaut. Den Namensgeber des Sektors („nur“ 6b – aber ein Riesentod) on sight eingesackt. Dann „L’Eliminante“ 7a+ trav. im 1. Versuch abgehakt. Während ich mit Silja und Steffi bouldere, entdecke ich Dai Koyamada, der gerade seinen 352. Versuch in „Confessions“ (8b+) startet. Gamba, gamba, Dai! Dai zählt zu den besten Kletterern der Welt (u.a. „Aktion Direkt“ und „The Story of two worlds“). Sein präziser und eleganter Stil, der mit der Kraft eines Herkules gepaart ist, könnte aus fernöstlicher Kampfkunst abgeleitet sein. Dazu weist er noch die typisch japanische Höflichkeit auf, eine bemerkenswerte Mischung. Hannes Huch hat ein paar Kurzfilme über Dai im Internet veröffentlicht – sehr sehenswert. Von Dais ruhiger Entschlossenheit beflügelt, noch eine pressige Namenlose 7a eingeworfen, und als Abschluß im Halbdunkeln im Sektor Danilo die “Tricipite Surale“ (7a+), eine unharmonische Hangel-Hook-Traverse im on sight abgeholt. Silja boulderte ihre zweite 6a+ und Steffi ihre zweite 6b. Am Abend wieder Maroni und Wein, dazu ein gepflegtes Schnipp-Schnapp. Herbstferien, wie sie besser nicht sein konnten!
PS: auf Dais Blog ist ein Photo von Siljas liebster Freundin Schluribumbi im Tiefschlaf zu sehen… :), darunter ein Photo vom Blick aus exakt unserem Pensionsfenster vom Oktober…